Georg Plank

Warum „Lumen Gentium“ ein revolutionär neues Kirchenbild begründet hat

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum in den letzten Jahrzehnten so viel von „Partizipation“, „Synodalität“ und dem „gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen“ die Rede ist? Die Antwort liegt in einem der wegweisendsten Dokumente der jüngeren Kirchengeschichte: der Kirchenkonstitution „Lumen Gentium“ des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965). „Lumen Gentium“ (lateinisch für „Licht der Völker“) wurde als die dogmatische Konstitution über die Kirche am 21. November 1964 vom Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedet. Sie zählt zu den vier Konstitutionen des Konzils und gilt als eines seiner zentralsten Dokumente.

Dieses Dokument markiert nichts weniger als einen fundamentalen Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der katholischen Kirche. Es revolutionierte das Kirchenbild, indem es die Kirche nicht mehr primär als hierarchische Institution, sondern als „pilgerndes Volk Gottes“ definierte. Doch was bedeutet diese Neuausrichtung konkret für die pastorale Praxis, für Ihre Gemeinde und für Ihr persönliches Kirchenverständnis?

Vor dem Konzil dominierte ein stark hierarchisches, auf den Klerus zentriertes Kirchenbild. Die Kirche verstand sich primär als „perfekte Gesellschaft“ (societas perfecta), die der Welt gegenübersteht. „Lumen Gentium“ brach mit diesem Verständnis und führte ein neues, gemeinschaftsorientiertes Kirchenbild ein. Die Revolution in „Lumen Gentium“ besteht vor allem in der fundamentalen Änderung des kirchlichen Selbstverständnisses:

  • Die Kirche wird primär als „Volk Gottes“ verstanden, nicht als hierarchische Institution
  • Alle Getauften haben durch Taufe und Firmung Anteil am Priester-, Propheten- und Königtum Christi
  • Die gemeinsame Würde aller Gläubigen wird betont
  • Die Hierarchie wird als Dienst, nicht als Herrschaft neu definiert

Einer der revolutionärsten Aspekte von „Lumen Gentium“ ist die Platzierung des Kapitels über das „Volk Gottes“ (Kapitel 2) vor dem Kapitel über die hierarchische Verfassung der Kirche (Kapitel 3). Diese Anordnung war nicht geplant, sondern wurde von mutigen Bischöfen als programmatische Änderung eingefordert. Sie macht deutlich, dass die Gemeinschaft aller Gläubigen die Grundlage der Kirche bildet. „Lumen Gentium“ betont, dass alle Christgläubigen durch die Taufe in die Kirche eingegliedert werden und dadurch eine fundamentale Gleichheit besitzen.

Aus dem neuen Kirchenverständnis von „Lumen Gentium“ haben sich in der Folge konkrete Konsequenzen für die pastorale Praxis ergeben wie eine stärkere Einbeziehung aller Gläubigen in Entscheidungsprozesse, die Wertschätzung und Förderung verschiedener Charismen, die Entwicklung partizipativer Leitungsmodelle oder der Aufbau von Pfarrgemeinderäten und synodalen Strukturen.

Allerdings gab und gibt es auch viele Widerstände und Rückschläge. Obwohl „Lumen Gentium“ bereits vor fast 60 Jahren verabschiedet wurde, ist die vollständige Umsetzung seiner Vision noch immer eine Herausforderung:

  • Traditionelle hierarchische Denkmuster sind noch immer tief verwurzelt
  • Die Balance zwischen hierarchischer Leitung und Partizipation ist nicht einfach zu finden und wird mancherorts boykottiert
  • Die praktische Umsetzung des „gemeinsamen Priestertums“ blieb bis heute unklar und scheitert oft am von Papst Franziskus so heftig kritisierten Klerikalismus
  • Institutionelle Strukturen passen oft nicht zur neuen Ekklesiologie. So ist die rechtliche Basis für hauptamtliche Mitarbeiter:innen nach wie vor dünn. Hauptberufliche und vom Bischof gesendete Theolog:innen decken sich zum Beispiel nicht mit dem Verständnis des Konzils von Laien.

Der von Papst Franziskus initiierte synodale Prozess kann als direkte Fortsetzung und Vertiefung der „Lumen Gentium“-Vision verstanden werden. Er greift zentrale Elemente auf und versucht diese im Lichte der heutigen Zeit und unter Einbindung aller, Bischöfe, Priester, Theolog:innen, Laien und Fachleuten zu konkretisieren.

Die in „Lumen Gentium“ grundgelegte Vision einer Kirche als „Volk Gottes auf dem Weg“ bleibt auch fast 60 Jahre nach ihrer Formulierung inspirierend und herausfordernd zugleich. Sie erinnert uns daran, dass Kirche keine statische Institution ist, sondern eine vielfältige und dynamische Gemeinschaft aller Getauften, die gemeinsam mitten in der Gesellschaft unterwegs sind. Die Revolution, die „Lumen Gentium“ ausgelöst hat, ist noch lange nicht abgeschlossen. Sie fordert uns auf, immer wieder neu darüber nachzudenken, wie wir Kirche so gestalten können, dass sie tatsächlich zum „Licht der Völker“ wird – zu einem Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit der ganzen Menschheit.

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