Biodiversität - Oneness
Georg Plank

Biodiversität – Oneness

Von klein auf fasziniert mich die ungeheure Vielfalt alles Lebendigen. Ob Pflanzen oder Tiere, ob Kulturen oder Religionen, ob Gesteine oder Zellen – egal, wo ich hinschaue, gibt es eine unübersehbare, verschwenderisch wirkende Fülle und Unterschiedlichkeit. Auch als Erwachsener kann ich einfach nur staunen, wenn ich in der Natur unterwegs bin, Reisen unternehme oder in besondere Einrichtungen wie das Insektarium in Montreal besuche, wo dem ahnungslosen Besucher gesagt wird, dass es allein bei den Ameisen geschätzte 20 – 30.000 Arten gibt!

Diese fachlich Biodiversität genannte Vielfalt ist das vielleicht wichtigste Gut unseres Planeten. Sie umfasst die Bandbreite an Ökosystemen und Lebensräumen, die Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten sowie die genetische Vielfalt innerhalb der verschiedenen Arten. Natürliche Lebensräume und Arten versorgen auch uns Menschen mit Nahrung und Trinkwasser, liefern Fasern für Kleidung und Grundstoffe für Arzneien, bieten Schutz vor Stürmen und Überschwemmungen und regulieren das Klima. Ohne die Leistungen dieser komplexen und sensiblen Ökosysteme wären die Existenzgrundlage, die Gesundheit und das Wohlergehen aller Völker und Gesellschaften in Gefahr.

Wir wissen, dass in den vergangenen Jahrzehnten ein katastrophaler Abwärtstrend der biologischen Vielfalt stattgefunden hat. Leider deutet wenig darauf hin, dass sich diese Entwicklung umkehrt oder zumindest verlangsamt. 60 Prozent der weltweiten Ökosysteme haben sich in den letzten 50 Jahren verschlechtert. Zu den anfälligsten Lebensräumen weltweit zählen Korallenriffe, Mangrovenwälder und Feuchtgebiete. Neben Faktoren wie dem Verlust von Lebensräumen durch Landwirtschaft, Besiedelung und Industrie, der Übernutzung von Tier- und Pflanzenarten, der Verschmutzung von Böden und Gewässern und der Ausbreitung invasiver Arten und Gene spielen mittlerweile auch die Auswirkungen des Klimawandels eine immer zerstörerische Rolle.

Die Analogie für Kirchen liegt nahe: Es geht um den lebenswichtigen Zusammenhang von Einzelteilen und dem Ganzen im Sinne von „Oneness“, wie sie viele spirituelle und mystische Richtungen beschreiben. Oder denken Sie an ein Orchester. Nur durch das Zusammenspiel und den Zusammenklang vieler Instrumente und Musiker:innen können Werke zum Klingen gebracht werden, die einst von genialen Komponist:innen ersonnen wurden.

Manche finden geistige, geistliche und praktische Inspiration in der Natur. Je mehr sie sich in die unvorstellbare Komplexität und Vielfalt der geschaffenen Welt vertiefen, umso größer wird ein Gefühl des Staunens, ja der Ehrfurcht und der Dankbarkeit. Dieses kann die Basis für ein umfassenderes Verständnis sein, das oft mit einem achtsamen Wahrnehmen und intuitiven Ahnen beginnt. Fabian Scheidler beschreibt zum Beispiel in seinem Buch „Der Stoff aus dem wir sind“ eine einzelne Zelle als Beispiel für das unglaublich komplexe Zusammenspiel von Einzelteilen, Prozessen und Energien: „Nicht weniger als zehn Billionen Moleküle, die ihrerseits aus Tausenden von Atomen bestehen, rasen kreuz und quer durch den Raum (EINER Zelle!).“ Aus diesen Bewegungen entstehen vielfältigste Prozesse, Aktionen und Reaktionen von Millionen unterschiedlicher Elemente. Jede Zelle würde vergrößert wie ein eigener unglaublicher Kosmos erscheinen, und zwar von handelnden Akteuren, die alle zu wissen scheinen, was zu tun ist und in komplexer Weise zusammenarbeiten. Das alles funktioniert ohne „Chef“, sondern in selbstregulierenden Prozessen. „Dass zehn Billionen Einheiten ohne einen dirigierenden Mastermind wissen, was zu tun ist und auf sinnvolle Weise miteinander interagieren, ist ein schwindelerregender Grad von Selbstorganisation“, so Scheidler. Noch einmal: All das spielt sich in einer einzigen Zelle ab. Ein durchschnittlicher Mensch besteht aus 30 Billionen Zellen.

Es braucht also die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der einzelnen Teile. Jegliche Uniformität verunmöglicht die Art von Einheit, von Gesamtsystem, von lebendigem Zusammenspiel, das Voraussetzung für Innovationen ist. Verliere ich meine Individualität, mein Ich, mein ganz besonderes Sein, wenn ich mich einem größeren Ganzen eingliedere und unterordne? So lautet die Sorge vieler Menschen vor allem in Ländern des westlichen Kulturkreises. In einer innovativen Organisationskultur betrachtet man Individualität jedoch gerade nicht als notwendiges Übel, sondern als Geschenk, das wertgeschätzt und gefördert wird. Erst wenn Menschen das tatsächlich und glaubwürdig erleben, werden sie für sich entdecken, dass ihre Sorge unbegründet ist. Erst dann werden sie aus freiem Herzen Teil eines größeren Ganzen sein wollen, weil sie erkannt haben, dass nur so ihre Einzigartigkeit aufblühen kann. Die scheinbare Aufgabe der Freiheit wird zur Voraussetzung für Selbstwerdung.

 

Aber wie wird aus vielen unterschiedlichen Menschen ein lebendiges und funktionierendes Ganzes? Auch da helfen die oben angeführten Bilder weiter. Es geht um die rechte Zusammensetzung, um die richtigen Proportionen und um eine gute Ausgewogenheit. Diese Kriterien sind bei sozialen Systemen nicht technisch und starr festgelegt, sondern verändern sich situativ und je nach Aufgabenstellung, Verfasstheit und Umweltbedingungen manchmal schneller und manchmal langsamer. Selten bleiben sie längere Zeit völlig gleich, so wie unser Körper sich auch vom Aufwachen am Morgen bis zur Nachtruhe immer wieder verändert, anpasst und neu konfiguriert. Bei Gruppen oder Organisationen ist zum Beispiel die Ausgewogenheit von Persönlichkeits- oder Innovationstypen wichtig, aber auch die Kompetenzen, das Wissen und die sozialen Fähigkeiten. Um der Tendenz zur Konformität („gleich und gleich gesellt sich gern“) entgegenzuwirken, braucht es die gezielte Pflege von Unterschiedlichkeit auf allen Ebenen. Das kann anstrengend und konfliktreich sein, führt aber bei konstruktiver Austragung zu einem Mehrwert, der in einem monokulturellen Einheitsbrei nie erreicht werden kann. Diese dynamische Verbundenheit der vielen Glieder in einem Leib, der vielen Engagierten in einem Projekt oder der vielen Mitarbeiter:innen in einer Organisation spielt sich auf vielen Ebenen ab. Sie ist oft nicht bewusst und geplant. Wie das vegetative System eines Organismus spielen sich viele lebensnotwendige Prozesse unbewusst ab, etwa Atmung, Stoffwechsel, Gleichgewicht. Man spürt dieses Eingespieltsein bei großartigen Bands und Orchestern, aber auch bei Mannschaftssportarten oder Großfamilien – und auch bei kirchlichen Gruppen, die „eines Geistes“ sind und entsprechend handeln.

Weitere Artikel

Gründer Georg Plank veröffentlicht wöchentlich Impulse für mehr Innovationen in christlichem Spirit und freut sich über zahlreiches Feedback. In Zukunft planen wir weitere Blogs durch unsere Referenten und Ecclesiopreneure.

Georg Plank·Heute ·2 min. Lesedauer
Kirchenshop

Kirchenshop

In diesen Wochen finden in vielen Gemeinden traditionell die Feiern der Erstkommunion, der Firmung bzw. der Konfirmation sowie viele kirchliche...

Georg Plank·Vor 1 Woche ·5 min. Lesedauer
Biodiversität - Oneness

Biodiversität - Oneness

Von klein auf fasziniert mich die ungeheure Vielfalt alles Lebendigen. Ob Pflanzen oder Tiere, ob Kulturen oder Religionen, ob Gesteine...

Georg Plank·Vor 2 Wochen ·4 min. Lesedauer
Lärmverschmutzung – Muße

Lärmverschmutzung – Muße

Heute, am Tag der Lärmverschmutzung, erinnere ich an Forschungen, die herausgefunden haben, dass Lärm als psychosozialer Stressfaktor nicht nur das...

Georg Plank·Vor 3 Wochen ·5 min. Lesedauer
Mobilität - Beweglichkeit

Mobilität - Beweglichkeit

Überdurchschnittlich zugenommen haben in den letzten Jahrzehnten Formen der Mobilität, sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr. Auch diese Entwicklung...

Schreibe einen Kommentar

Newsletter

Ich möchte am Laufenden bleiben.