Die menschliche Fähigkeit zum Erinnern beinhaltet eine Kehrseite, vor allem dann, wenn es um traumatisierende Begebenheiten geht. Dann kann die Erinnerung an negative, frustrierende oder gewalttätige Erlebnisse nicht nur dieselben alten Gefühle von Wut, Enttäuschung oder Ärger erneut auslösen und Rachegelüste wecken, sondern bei besonders belastenden Erlebnissen auch retraumatisierend wirken. Das macht die Aufarbeitung von Gewalt- und Missbrauchserfahrungen so schwierig.
Die aus Ungarn stammende und dann in den USA lebende und wirkende Edith Eva Eger hat in ihrem Buch „Ich bin hier, und alles ist jetzt: Warum wir uns jederzeit für die Freiheit entscheiden können“ diese Thematik autobiografisch beschrieben. Mit 16 Jahren wurde sie nach Ausschwitz verschleppt, musste Unvorstellbares erleiden und vor dem sadistischen Arzt Dr. Josef Mengele um ihr Leben tanzen. In den USA lernte sie später den Gründer der Logotherapie Viktor Frankl kennen. Dieser hatte ein ähnliches Schicksal wie Eger erleben müssen. Auch er erlitt Deportation und Aufenthalte in Konzentrationslagern und überlebte wie durch ein Wunder die Terrorherrschaft der Nazis. In seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen (Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager)“ hatte er anschließend seine Erfahrungen verarbeitet. Frankl unterstützte Edith Eva Eger in ihrem jahre-, ja jahrzehntelangen Prozess der Aufarbeitung. Schließlich konnte sie dann selbst als Therapeutin Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen helfen. Im hohen Alter von 90 Jahren sah sie sich endlich imstande, dieses warmherzige und lebensbejahende Buch zu verfassen, das wiederum für viele Menschen inmitten von Dunkelheiten und Abgründen mögliche Tore und neue Wege öffnen kann.
Dr. Eger erzählt, warum Befragungen von traumatisierten Menschen mit äußerster Sensibilität und in Kombination mit professionellen therapeutischen Maßnahmen durchgeführt werden müssen. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass Vergessen, Verdrängen und Verleugnen zunächst einmal psychohygienische Methoden und Funktionen sind, um angesichts schlimmer Traumata überhaupt bestehen und weiterleben zu können. Um dann in weiteren Schritten jedoch die destruktiven Mechanismen traumatisierender und verdrängter Erfahrungen für die Opfer von Gewalt und Missbrauch lindern zu können, braucht es mehr. Auf Seiten der Opfer ist es der Wille zur Aufarbeitung, oft ermöglicht durch behutsame, liebevolle und konsequente therapeutische Begleitung. Und auf Seiten der Täter:innen ist das Bekenntnis der eigenen Schuld unumgänglich. Möglich ist das oft erst lange Jahre nach den Ereignissen, wie aktuell in vielen Publikationen zur Naziherrschaft und zum zweiten Weltkrieg deutlich wird. Gerade wenn es kaum mehr lebende Augenzeug:innen gibt, spielt die historische Forschung eine zentrale Rolle, um eine konstruktive Erinnerungskultur zu betreiben. Ansonsten entfalten Traumata, Schuld und Verbrechen lange nach den Ereignissen individuell und gesellschaftlich fatale Wirkungen.
Das ist im Übrigen auch einer der Gründe, warum Medienforscher:innen empfehlen, sich nicht unkritisch hineinsaugen zu lassen in eine dominant negative Berichterstattung, die dazu führen kann, immer stärker in defizitorientierten Blasen gefangen zu werden.