Mit dem Herzen hören

„Stille schenken!“ Auch sich selbst. Ich musste es wieder lernen. In einer Phase zahlreicher Konflikte und Empörungen habe ich begonnen, mich spätabends vor dem Schlafengehen neben meinem Bett hinzuknien und 10 Minuten in Stille zu sein. In mir ist Ruhe eingekehrt, ein unerwarteter und höchst willkommener Freiraum. Ich habe von neuem gelernt, die Erfolgsmomente des Tages Revue passieren zu lassen und auch das beträchtliche Ungenügen, das im Laufe des Tages zusammenkommt. Alles wahrnehmen und ohne Beschönigung sein lassen.

„Stille schenken!“ An der Spitze des ungewöhnlichen Aufrufs, den mein Freund, der Theologe Otto Neubauer in Wien während einer sich zuspitzenden gesellschaftlichen Polarisierung 2021 initiiert hat, stand kein geringerer als der französische Schauspieler Philippe Pozzo di Borgo. Im Film „Ziemlich beste Freunde“, wird nicht nur sein Schicksal einer Querschnittslähmung nach seinem Unfall beim Paragleiten dargestellt, sondern vor allem die bewegende Freundschaft mit dem unprofessionellen Pfleger Driss, gespielt von Abdel Yasmin Sellou.

Das Plädoyer von Pozzo di Borgo war eindeutig: Wir brauchen Stille, um füreinander wieder begegnungsfähig zu werden. Unsere zerrissene Gesellschaft kann sich nur erneuern, wenn wir im Anderen „seine Vielschichtigkeit, Zerbrechlichkeit und seinen Ruf nach Würde“ neu entdecken. Nur durch die Stille gibt es den Zugang zum „inneren Reichtum“, zur Mitte von uns selbst und von unseren Nächsten.

Impulsfrage: Wie könnte ich mir 10 Minuten Stille gönnen?

Quelle: „Dein Herz ist gefragt: Spirituelle Orientierung in nervöser Zeit“ Seite 27, Herder Verlag, 2. Auflage 2023 von Bischof Hermann Glettler